Stationen eines Leidenswegs: Am 6. Dezember 1991 erkrankte Paula, 28jährige Tochter der weltbekannten Autorin Isabel Allende, an einer Stoffwechselkrankheit. Zwei Tage später fällt sie ins Koma. Und erwacht daraus nie mehr. Am 6. Dezember 1992 ist Paula tot. Isabel Allende schreibt gegen die Verzweiflung an, lässt ihr Leben Revue passieren, reflektiert über das Schicksal ihrer Tochter. Dem Redakteur Stefan Teplan erzählte Isabel Allende – kurz vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung ihres Buches „Paula“ – wie sie das Leiden und den Tod ihrer Tochter bewältigt hat.
Stefan Teplan: Ist es für Sie schwer, über Paulas Tod zu sprechen?
Isabel Allende: Das Schreiben hat mir geholfen. Aber auch meine Familie hat mir sehr geholfen. Ich kann jetzt schon darüber sprechen. Aber es fällt mir noch schwer, mit Fremden der Presse darüber zu reden. Das ist einer der Gründe, warum ich es abgelehnt habe, nach Europa auf eine Promotion-Tour zu gehen. Ich konnte es aber nicht vermeiden, in einigen Interviews Fragen über Paulas Tod zu beantworten.
Stefan Teplan: Sie zeigten in diesen Interviews ihre tiefsten Gefühle erstaunlich offen.
Isabel Allende: Ja, ich gehe damit sehr offen um, weil ich aus einem Kulturkreis komme, in dem der Tod kein Tabu ist wie etwa in den USA. Hier sprechen die Leute nicht über Schmerz, Versagen, Krankheit oder Tod. Ich dagegen komme aus einem Land, wo man sich vor solchen Dingen nicht versteckt.
Stefan Teplan: Sie haben sich vor Fragen nach Leben und Tod nicht versteckt, während Paula im Koma lag. Waren das auch Fragen nach Gott?
Isabel Allende: Mein Leben war schon immer sehr spirituell bestimmt. Doch zu der Zeit, als Paula im Koma lag und auch in der Zeit nach ihrem Tod habe ich noch mehr zu meiner eigenen persönlichen Spiritualität gefunden. Ich bin eigentlich kein religiöser Mensch. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich fühle mich keiner religiösen Organisation zugehörig. Doch ich fühle mich dem Heiligen sehr nahe… und ich wurde auch sehr katholisch erzogen. Ich komme aus einer katholischen Familie und wurde mit der Bibel groß.
Stefan Teplan: Was bedeutet Ihnen die Bibel?
Isabel Allende: Ich habe die Bibel sehr gründlich gelesen und finde, dass sie ein faszinierendes Buch ist. Ich nehme sie des Öfteren auch wieder zur Hand, weil ich finde, dass sie wunderbare Geschichten enthält. Man kann immer wieder etwas aus ihnen lernen. Während der Zeit, zu der Paula im Krankenhaus lag, suchte ich Hoffnung aus meiner Religion zu finden das heißt, aus der katholischen Religion, aus der ich komme. Aber ich fand diese Hoffnung darin nicht. Ich begleitete meine Mutter in die Kirche, doch ich fühlte mich dabei nicht wohl. Wenn ich die Bibel aufschlug, konnte ich darin keinen Trist finden. Ich fand aber viel mehr Hoffnung und Stärke in meiner Liebe zu Paula und in meiner engen Bindung an die Familie.
Stefan Teplan: Sie schreiben, Sie haben damals öfter gebetet. Zu welchem Gott?
Isabel Allende: Ich stelle mir einen spirituellen Ozean vor, einen gemeinsamen Geist, ein gemeinsames Bewusstsein. Und wir alle sind tropfen in diesem einzigartigen Meer. Auf dieser erde sollen wir alle durch unsere Sinne, Sehnsüchte und durch Leid etwas lernen. Dieser Tropfen, der wir sind, kehrt dann zur Ganzheit des gemeinsamen Ozeans zurück. Und das, denke ich, tat Paula. Und das werde ich tun, wenn ich sterbe. Ich werde in ein Ganzes integriert werden. Wenn ich bete, versuche ich, ganz still zu sein und mich mit dieser Ganzheit, von der ich ein Teil bin, zu verbinden.
Stefan Teplan: Sie schreiben über Paula: „Sie fragte nach einem Sinn im Leben und ließ mich mit der Aufgabe allein, die Antwort zu finden.“ Welche Antwort haben Sie gefunden?
Isabel Allende: Ich fand mehrere Antworten, aber die wichtigste ist vielleicht diese: Das einzige, was ich habe, ist die Liebe, die ich gebe. Nicht die Liebe, die ich erhalte. Als Paula im Koma lag, konnte sie gar nichts zurückgeben. Doch ich schenkte ihr meine ganze Liebe, bedingungslose Liebe ohne irgendwelche Erwartungen oder Wünsche, Liebe um der Liebe willen. Als sie starb, dachte ich, ich hätte alles verloren. Ich verlor ihre Gesellschaft, ihre Gegenwart, ihren Körper, ihre Seele, ihre Intelligenz. Dann erkannte ich, dass ich all die Liebe, , die ich ihr gab und für sie empfinde, immer noch habe. Das war für mich die wichtigste Lektion: Ich habe nichts als die Liebe, die ich anderen gebe. Das hält mich am Leben und das macht mich reich.
Stefan Teplan: Ihr Leid macht Sie nicht verbittert?
Isabel Allende: Aus Leid kann man lernen. Wie kann ich verbittert sein? Leid lehrt mich eine Lektion, die ich lernen muss.
Stefan Teplan: Sie sind in Ihrem Buch so schonungslos ehrlich, dass ich Ihren Mut, es zu veröffentlichen, bewundere.
Isabel Allende: Ich war mir in der Tat lange unklar, ob ich es veröffentlichen sollte. Nicht weil ich Angst davor hatte, mich zu entblößen, sondern wegen anderer Menschen; die ich darin ebenfalls entblöße: meinen früheren Mann, meine Eltern und viele andere. Ich sprach mit ihnen, und sie alle rieten mir, das Buch zu veröffentlichen. Und ich tat es, um mein Leid mit anderen zu teilen. Die Briefe, die ich seit dem Erscheinen der spanischen Originalausgabe erhalten habe, bestätigen mich. Viele, die ebenfalls gelitten haben, fühlen sich mit mir verbunden. Die Botschaft, dass man das Leid annehmen und für wertvoll halten kann, ist für viele Menschen wichtig. Aber dieses Buch geht nicht nur um Leid. Es geht um Freundschaft, es ist ein Buch über die Liebe, über das Leben.
Copyright: Stefan Teplan
Erstveröffentlichung im Magazin Weltbild, April 1995